Bericht der Tagung in Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg vom 12.-14. September 2024
von Mechthild vom Büchel
Wie können Gedenkstättenfahrten vielfältiger und inklusiver gestaltet werden? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Tagung „Vielfältige Erinnerungskultur in der Praxis“ vom 12. bis 14. September 2024 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Hamburg. Mehr als 80 Personen waren der Einladung der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks gGmbH in Dortmund gefolgt. Sie diskutierten engagiert, wie Gedenkstättenfahrten barrierefrei gestaltet werden können und wie bisher weitgehend verdrängte Verfolgtengruppen und ihre Perspektiven in die Erinnerungsarbeit einbezogen werden können.
beschrieb Dr. Astrid Sahm, Geschäftsführerin der IBB gGmbH, die Zielsetzung der Tagung.
Vor dem offiziellem Beginn der Tagung hatte die KZ-Gedenkstätte drei verschiedene Themenrundgänge angeboten. Einen allgemeinen Rundgang über „Das KZ Neuengamme: Geschichte und Nachgeschichte“ führte Jon Kornell. Marie Stahlfeld und Gisela Ewe leiteten einen Rundgang zum Thema „Schwarze Gefangene im KZ Neuengamme“. Und Marco Kühnert berichtete Interessierten gezielt über „Sowjetische Kriegsgefangenen im KZ Neuengamme“.
Zum offiziellen Auftakt der Tagung begrüßten Dr. Susann Lewerenz von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Dr. Astrid Sahm von der IBB gGmbH und Sera Choi vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die Teilnehmenden. Dr. Astrid Sahm erzählte, dass sie die Gedenkstätte in Hamburg zum ersten Mal 1985 besucht hatte als Preisträgerin des Schülerwettbewerbs „Deutsche Geschichte“. In einem 14-tägigen internationalen Workcamp hatte sie schon damals unterschiedliche Perspektiven auf die NS-Zeit kennengelernt von Teilnehmenden aus Polen und Finnland, Algerien, der Slowakei und vielen weiteren Ländern.
Wer spricht wie über Geschichte? Wer hört zu? Und wem wird zugehört?
Der Vortrag von Cornelia Chmiel von der Freien Universität Berlin – vorgetragen von Susanne Becker, Referentin der IBB gGmbH, und Dr. Susann Lewerenz – sensibilisierte vor allem für die Frage, wer Geschichte wie präsentiert und welche Zielgruppen erreicht oder auch ausgeschlossen werden. Dies sei immer eine Machtfrage. Die Vielfalt der Gesellschaft werde in der aktuellen Erinnerungs- und Bildungsarbeit von Gedenkstätten in der Regel nicht abgebildet: Und zwar weder auf Seiten der Mitarbeitenden, die Geschichte vermitteln, noch in den behandelten Themen, noch auf Seiten der erreichten Zielgruppen.
Auch im anschließenden Podiumsgespräch mit Dr. Mehmet Daimagüler, Beauftragter der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland, Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, und Ines Eichmüller, vom Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus e. V., ging es um Leerstellen in der Erinnerungsarbeit. So sind die wenigsten Gedenkstätten und ihre Angebote für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich. Zudem gibt es noch immer verdrängte Verfolgtengruppen wie zum Beispiel die sogenannten „Berufsverbrecher“ und „Sicherungsverwahrten“, die nur wenig Beachtung finden. Bezüge zu weiterhin existierender Diskriminierung und immer noch herrschenden Ideologien der Ungleichwertigkeit werden nur selten hergestellt. Der Inhalt des ersten Tages wurde in Leichte Sprache übersetzt.
Am zweiten Tag konnten sich die Teilnehmenden in acht unterschiedlichen Workshops zu folgenden Themen austauschen und ihr Wissen vertiefen.
Die Teilnehmenden diskutierten in folgenden Workshops:
- Die Verfolgung von Sinti* und Roma* als Thema von Gedenkstättenbesuchen
Sevin Begovic (Bildungsforum gegen Antiziganismus), Arnold Weiß, Moritz Terfloth (Landesverein der Sinti in Hamburg e.V.)
- Entrechtung und Krankenmord an Kindern, Jugendlichen und Menschen mit ausländischer Herkunft als Gegenstand inklusiver und internationaler Geschichtsvermittlung
Carola Rudnick („Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg)
- Queere Menschen und ihre Verfolgung im Nationalsozialismus
Ansgar Tonya Karnatz und Jona Diwiak (beide KZ-Gedenkstätte Neuengamme)
- Perspektiven öffnen – Geschichten teilen: Der Vernichtungskrieg im östlichen Europa aus Sicht von Menschen mit osteuropäischer Migrations- bzw. Familiengeschichte
Natalia Wollny (KZ-Gedenkstätte Neuengamme und „Euthanasie“-Gedenkstätte Lüneburg) und Jan Dohrmann (Gedenkstätte Lager Sandbostel)
- Jüdische Verfolgungserfahrungen neu gedacht – Leerstellen, Gegenwartsbezüge, Verflechtungsgeschichten
Furkan Yüksel (Bildungsstätte Anne Frank)
- Inklusive Gedenkstättenfahrten – Workshop mit Projektbeteiligten des EU-Projekts „Erinnern inklusiv / REM inclusive“
Linus Bade, Hannah Kiesbye, Annika Hirsekorn, Constanze Stoll (IBB gGmbH)
- Stigma „Asozial“
Marie Stahlfeld und Wiebke Elias (KZ-Gedenkstätte Neuengamme)
- Frauen als Verfolgte und Täterinnen
Ulrike Jensen (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) und Karin Heddinga (Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte)
In der darauffolgenden Fishbowl-Runde berichteten Teilnehmende aus den verschiedenen Workshops. Laura Lopez Mras (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg) und Oliver Gaida (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas) erzählten vom Projekt „Die Verleugneten“. Eine Ausstellung, die im Rahmen dieses Projekts entstanden ist, erinnert ab 10. Oktober 2024 in Berlin an Menschen, die im Nationalsozialismus als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ verfolgt wurden. Sie lenkt den Blick damit beispielhaft auf eine solche Leerstelle in der Erinnerungskultur, wie sie bereits im Podiumsgespräch zum Auftakt der Tagung beschrieben worden war.
Unterschiedliche Verfolgungserfahrungen
In den verschiedenen Workshops schauten die Teilnehmenden auf unterschiedliche Gruppen, Zugänge und Verfolgungserfahrungen. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die verschiedenen Herausforderungen und unterschiedliche, verdrängte Perspektiven jedoch alle miteinander zusammenhängen. Mehrere Teilnehmende äußerten den Wunsch nach besser verständlichen Materialien möglichst in Einfacher Sprache.
Am dritten Tag war der Blick auf die Praxis gerichtet. Im Centro Sociale, einem selbstverwalteten Ort im Hamburger Schanzenviertel, stellten vier verschiedene Projekte ihre Arbeit vor:
- Projekt „Gedenkstättenfahrten an Orte von Deportationen von Jüdinnen*Juden und Sinti*ze und Rom*nja aus Norddeutschland“
Johanna Schmied (denk.mal Hannoverscher Bahnhof)
- Das Projekt „Vergessene Verfolgte“
Kathrin Zöller (Geschichtsort Villa ten Hompel – Memorial & Museum)
- Das Projekt „Von einem Ort des Jubels zu einem Ort des Unrechts“
Gero Kopp (Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht Osnabrück)
- Projekt „Verflechtungen. Koloniales und rassistisches Denken und Handeln im Nationalsozialismus“
Dr. Susann Lewerenz (KZ-Gedenkstätte Neuengamme)
Diese Projekte sind so angelegt, dass Menschen unterschiedliche Zugänge finden, um sich mit dem Nationalsozialismus zu beschäftigen: So ging es um die Geschichte des Sportplatzes in der Nachbarschaft, Orte der Deportation, Biografien von Menschen aus verdrängten Verfolgtengruppen und um Verbindungen zu den Folgen des Kolonialismus.
Kreative Zugänge zur Geschichte ermöglichen
Die vier Beispiele zeigten auch eine Vielfalt der Methoden: Comics zeichnen, historische Orte fotografieren, in der Nachbarschaft recherchieren und die unterschiedlichen Perspektiven von verschiedenen Menschen in den Fokus rücken – all dies schafft einen individuellen Zugang zur NS-Zeit. Der Umgang mit Täterquellen und Tätersprache ist für die verantwortlichen Personen in der Bildungsarbeit dabei ebenso herausfordernd wie die Reflektion der eigenen Machtposition.
Sera Choi vom Bundesfamilienministerium versicherte in der Abschlussrunde, dass die inhaltliche Weiterentwicklung der Erinnerungskultur und die Förderung von Gedenkstättenfahrten im politischen Berlin hohe Priorität genießt.
Zoe Stupp von der Zentralstelle zur Förderung von Gedenkstättenfahrten bei der IBB gGmbH und Paula Scholz von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme fassten am Ende zusammen, dass Leerstellen in der Erinnerungsarbeit immer auch mit der Gegenwart und aktueller Diskriminierung zu tun haben. Um eine vielfältige Erinnerungskultur in der Praxis umzusetzen, sei es wichtig, Nachkommen von Verfolgtengruppen und Selbstorganisationen von Betroffenen stärker einzubeziehen. Und es brauche Geld, Zeit und Mut, um Geschichtsvermittlung, ihre Formate und Strukturen anders zu denken.
Dieser Bericht wurde erstmals am 6. Oktober auf der IBB-Webseite veröffentlicht.
Weiteres:
Der Veranstaltungsbericht auf der IBB-Webseite
Der Veranstaltungsbericht der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
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